15. Kapitel
Das laute Rasseln eines Tamburins riss Nell aus ihrem unruhigen Schlaf. Sie schlug die verschwollenen Lider auf und blickte zur vertrauten weißen Decke ihres Schlafzimmers empor. Sie brauchte ein paar Sekunden, bis ihr wieder einfiel, dass sie ja in einem alten Sessel im Arbeitszimmer ihres Vaters eingenickt war. Aber wie war sie hier gelandet? O Gott, Mikhail!
»Mikhail!« Sie sprang aus dem Bett und blieb abrupt stehen. Morag stand im Türrahmen, das alte Tamburin ihrer Mutter in der Hand.
»Wo ist Mikhail?« Ohne eine Antwort zu erwarten, rannte Nell an der Alten vorbei nach unten. Dabei rief sie immer wieder Mikhails Namen, schaute ins Studierzimmer, ins Wohnzimmer, in die Küche. Er war nirgends zu finden. Erregt raufte sie sich die Haare. Was war los? Gestern Abend war er bewusstlos zusammengebrochen und hatte sich trotz aller Bemühungen nicht wieder aufwecken lassen. Sie hatte Todesängste um ihn ausgestanden. Und jetzt war er einfach verschwunden?
Das Klirren des Tamburins lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder auf Morag, die ihr nach unten gefolgt war. Die Schottin schenkte ihr einen mitfühlenden Blick, dann deutete sie zur Haustür.
Mikhail war fortgegangen?
Die alte Kaminuhr zeigte Viertel vor drei. Nachmittags! Sie hatte den halben Tag verschlafen! Jetzt erst wurde ihr bewusst, dass sie im Nachthemd war. Wie war das zugegangen?
»Er ist doch nicht zur Schule gegangen?«, fragte sie Morag. Die Alte seufzte und wies noch einmal zur Haustür.
Nun, das sollte wohl »ja« bedeuten, vermutete Nell. Rasch wirbelte sie herum und rannte wieder in ihr Schlafzimmer hinauf. Sie zog sich hastig an und fuhr mit einer Bürste durch ihre Haare. Dann packte sie die Crumpets, die sie für Georgina gebacken hatte, in einen Korb und machte sich auf den Weg zur Schule.
Der Weg war kurz, dennoch bereute es Nell beim Näherkommen, dass sie nicht wenigstens einen Blick in den Spiegel geworfen hatte, bevor sie aus dem Haus ging. Sicher sah sie fürchterlich aus. Sie fühlte sich jedenfalls fürchterlich.
Sie nahm den Korb in die linke und strich sich mit der rechten Hand über ihre Haare, vergewisserte sich, dass das Haarband, mit dem sie sie hastig zusammengefasst hatte, richtig saß.
Sie musste nicht lange warten, bevor die ersten Kinder aus der Schule herauskamen. Georgina war die Letzte, dicht gefolgt von Mikhail. Als dieser sie auf dem Schulrasen stehen sah, strahlte er sie an. Er schien wieder vollkommen gesund zu sein, wie sie mit großer Überraschung feststellte. Da sie sich um ihn im Moment offenbar keine Sorgen machen musste, richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf Georgina. Nell lächelte unsicher. Sie wusste nicht recht, wie sie auf die Kleine zugehen sollte. Aber sie hätte sich keine Sorgen machen müssen. Sobald Georgina Nell erblickte, rannte sie mit ausgebreiteten Armen auf sie zu. Nell stellte ihren Korb ab und fing sie auf. Das Mädchen roch wie immer nach Heu und Sonnenschein.
»Es tut mir leid, Georgie«, flüsterte sie dem Mädchen zu und benutzte dabei den alten Kosenamen, den sie sich zusammen ausgedacht hatten. »Ich war nie böse auf dich, das hättest du nicht glauben sollen. Aber ich hätte dich mal besuchen müssen.«
Georgina wich ein wenig zurück und schaute mit einem solchen Strahlen zu ihr auf, wie es nur Kinder zustandebringen. »Schon gut. George hat gesagt, dass es seine Schuld ist. Er sagte, du willst mich wahrscheinlich sehen, aber er hat's dir einfach zu schwer gemacht.«
Ein ungewohntes Gefühl, George gegenüber so etwas wie Dankbarkeit zu empfinden, aber sie war dankbar für die Umsicht, die er seiner kleinen Schwester gegenüber zeigte.
»Na ja, jetzt können wir uns ja so oft sehen, wie wir wollen«, versicherte Nell Georgina und hob ihren Korb auf. »Ich kann dich von der Schule abholen oder du kommst mich in meinem Cottage besuchen, so oft du magst. Und wenn du kommst, dann werde ich noch mehr von denen hier backen.« Sie hielt Georgina die in ein Tuch gewickelten Crumpets hin.
Diese nahm das Bündel und spähte hinein. Dann jauchzte sie vor Vergnügen. »Crumpets! Und sie duften nach Rosen! Das sind meine allerliebsten!« »Ich weiß«, sagte Nell und strich dem Mädchen übers Haar »Aber jetzt solltest du gehen, sonst macht sich deine Mutter noch Sorgen um dich.«
Georgina nickte eifrig und hüpfte davon.
»Würdest du mir auch so leicht verzeihen, wenn ich dir Crumpets backen würde?«, erkundigte sich Mikhail, der unbemerkt an ihrer Seite erschienen war.
Nell wandte sich ihm zu und musterte ihn einen Augenblick lang prüfend. Er wirkte müde und hatte dunkle Ringe unter den Augen, ansonsten schien es ihm aber wieder gut zu gehen.
»Was sollte ich dir denn vergeben?«, erkundigte sie sich.
Er strich ihr zärtlich das Haar aus dem Gesicht. »Dass ich dir Sorgen gemacht habe.«
Seine Berührung machte sie ganz verlegen und sie trat unwillkürlich einen Schritt zurück. »Nur ein bisschen.«
Er schüttelte traurig den Kopf. »Du hast meinetwegen geweint.«
Nell verdrehte die Augen. »Also bin ich eine Heulsuse, na und? Dafür kannst du doch nichts.«
»Nell, du kannst mir nichts vormachen, ich habe dich ganz schön erschreckt. Du siehst aus, als hättest du überhaupt nicht geschlafen, und deine Lider sind ganz geschwollen vom Weinen.«
»Ich hatte mir schon gedacht, dass ich fürchterlich aussehe. Danke, dass du's mir bestätigst.«
Jetzt musste Mikhail grinsen, was viel besser zu ihm Passte als die kummervolle Miene. »I wo! Sie sehen zum Anbeißen aus, Miss Witherspoon. Und da du die Crumpets alle verschenkt hast, muss ich mich wohl oder übel an dich halten.«
Als Nell das gefährliche Funkeln in seinen Augen sah, fand sie es klüger, rasch das Thema zu wechseln. »Also gut, ich gebe es zu, ich habe mir Sorgen gemacht. Was war denn los mit dir, Mikhail?«
Er zuckte unbehaglich mit den Achseln. »Ich weiß es selbst nicht so genau. Ich habe diese ... Anfälle zum ersten Mal nach dem Tod meiner Eltern bekommen. Die Ärzte wissen nicht genau, was es ist. Ein schwaches Herz, sagen sie. Ein Heilmittel dagegen gibt es offenbar nicht.«
Nells Magen krampfte sich angstvoll zusammen. »Was soll das heißen, kein Heilmittel? Das kann doch nicht sein! Vielleicht solltest du zu einem anderen Arzt gehen, Mikhail.«
»Ich war bei so vielen Ärzten, dass es mir für den Rest meines Lebens reicht«, widersprach er. »Hör auf, dich zu sorgen, es geht mir wieder gut, ehrlich. Einen Rat haben mir die Ärzte gegeben: Es ist nicht gut, wenn ich mich aufrege. Eine sorglose, glückliche Einstellung wirkt ihrer Meinung nach offenbar lebensverlängernd. Zumindest in meinem Fall.«
Nells Augen wurden ganz groß. Ihr war gerade etwas eingefallen. »Warst du deshalb so fröhlich, als wir im Ärmelkanal trieben? Und fast erfroren wären? Hast du dich deshalb hier so scheinbar mühelos eingewöhnt? Und unterrichtest gern?« Und scheinst so glücklich mit mir zu sein?, dachte sie traurig. Mikhail war Optimist - aus reiner Notwendigkeit, wie ihr jetzt klar wurde. Er hatte gelernt auch aus unangenehmen Situationen das Beste zu machen. Es schien ihm hier gut zu gefallen. Aber stimmte Jas wirklich? Was empfand er in Wahrheit? Vielleicht verabscheute er ja das einfache Dorfleben, das enge, kleine Cottage, in dem er mit ihr leben musste? Ganz bestimmt! Er war schließlich an ein privilegiertes Leben gewöhnt. Wie hatte sie sich je etwas anderes einbilden können?
»Nun, obwohl wir uns hier verstecken müssen, gefällt es mir sehr gut, Nell. Und das Unterrichten ist etwas ganz Neues für mich - etwas, das mir liegt, glaube ich. Und ich mag meine Schüler, sehr sogar.«
Das musste er ja sagen. Er war ein höflicher Mensch, jemand, der Rücksicht auf die Gefühle anderer nahm.
»Ja, natürlich«, entgegnete sie ein wenig lahm. Sie empfand auf einmal eine tiefe Traurigkeit. Sie musste den Tatsachen ins Auge sehen. Was immer sie sich in Bezug auf ihn und sich eingebildet haben mochte, war bestenfalls lächerlich. Mikhail war ein guter Mann, ein wundervoller Mann, der seine Familie um jeden Preis beschützte. Und sie wiederum würde alles tun, um ihm zu helfen. Aber dann würden sich ihre Wege trennen. Vielleicht sollte sie ja doch auf den Kontinent übersiedeln. Auf diese Weise wäre sie nicht nur weit weg von New Hampton, sondern auch von London. Und von ihm, dem Mann, der in ihr den Wunsch hatte aufkeimen lassen, dass die Dinge anders wären, dass sie anders wäre.
»Ich muss gehen«, stieß sie plötzlich hervor. Mikhail musterte sie stirnrunzelnd. »Wohin?«
Sie überlegte rasch und äußerte das Erste, was ihr in den Sinn kam. »Ich muss nachsehen, ob mein Kleid schon da ist.«
»Ah ja. Ich komme mit.«
»Nein!« Nell biss sich auf die Lippe. Das war ihr viel zu schnell herausgerutscht. Sicher war er jetzt verletzt. Hastig fügte sie hinzu: Ich meine, es dauert ja nicht lange. Und Morag passt schon den ganzen Tag allein auf die Kinder auf. Ich bin sicher sie würde sich über Unterstützung freuen.«
»Wie du willst« Mikhails Miene war skeptisch. Er wusste ebenso gut wie sie, wie gerne Morag die Kinder hütete. Wenn es nach ihr ginge, bräuchte sie gar keine Unterstützung. Auch die Kinder hatten sich mittlerweile sehr an sie gewöhnt Bei Morag weinten sie so gut wie nie.
Noch immer völlig verblüfft verließ Nell den Kaufladen. Das mit dem Kleid war nur eine Ausrede gewesen, sie hatte nicht wirklich geglaubt, dass es bereits da wäre. Aber das war es. Und nicht nur das: Adam hatte ihr nicht nur ein, sondern gleich zwei Kleider bestellt. Das grüne Tageskleid war von guter Qualität und besaß hübsche weiße Rüschen an Ärmel und Kragen. Aber wirklich umwerfend war vor allem das zweite Kleid - tatsächlich war es das schönste Kleid, das Nell je besessen hatte. Es bestand aus teurem goldenen Taft, mit einem gewagten Ausschnitt, engem Mieder und weitem, schwingendem Rock. Wie gesagt, einfach umwerfend.
»Für den Tanz morgen«, hatte Adam gesagt und ihr verschwörerisch zugezwinkert. Dann hatte er sich über die Theke gebeugt und gemurmelt: »Es ist nur eine schwache Entschuldigung, aber Sarah und ich möchten, dass du weißt, wie leid es uns tut. Deine Eltern waren gute Leute. Wir hätten dem Vikar schon viel früher Paroli bieten sollen.«
Nell blinzelte jäh aufsteigende Tränen fort. Sie hasste Adam und Sarah und alle anderen Dorfbewohner schon so lange, dass diese nette Geste sie vollkommen aus der Bahn warf. Hatten sie sich wirklich mit dem Vikar angelegt? Zum ersten Mal, seit sie ins Dorf heimgekehrt war, fragte sie sich, warum der alte Pfarrer wohl gegangen war. Sie konnten ihn doch nicht tatsächlich aus dem Amt getrieben haben?
»Na, wen haben wir denn da? Wenn das nicht die kleine Storm Witherspoon ist!«
Diese Stimme kannte Nell. Sie blickte auf und sah, dass eine glänzende schwarze Kutsche neben ihr angehalten hatte. Aus dem Fenster beugte sich ein vertrautes Gesicht, das sie mit unverhohlenem Hass musterte.
»Hallo, Elisabeth.«
Elisabeths schönes Gesicht verzerrte sich vor Wut. »Wie kannst du es wagen! Für dich Lady Morton, du Bauerntrampel!«
Nell war verwirrt. Es hatte eine Zeit gegeben, da waren sie und Elisabeth, nur ein Jahr älter als sie, unzertrennlich gewesen. Es hatte keine Rolle gespielt, dass sie arm war und Elisabeth reich. Für Elisabeths Mutter, Star, Skys einzige und über alles geliebte Schwester, war Nell wie eine zweite Tochter gewesen, und sie hatte sie oft auf ihr Anwesen eingeladen, das etwa eine Stunde vom Dorf entfernt lag. Auch Elisabeth hatte sie immer wie eine Schwester behandelt, selbst nachdem Star an Schwindsucht gestorben war.
Aber einige Jahre später, als Elisabeth dreizehn wurde, hatte ihr Vater, Lord Morton, ein zweites Mal geheiratet. Elisabeth hatte nicht nur eine Stiefmutter bekommen, sondern auch einen Stiefbruder, der genauso alt war wie sie. Thomas war der ideale Bruder und auch für Nell ein guter Freund geworden ... Wie viele Sommer und Winter hatten sie hier zu dritt im Dorf gespielt? George hatte sich ihnen oft angeschlossen, wenn er mit der Farmarbeit fertig war.
Doch dann hatten sich die Dinge geändert. Nell konnte nicht sagen, wann genau und warum. Aber Elisabeth war ihr gegenüber zunehmend feindselig geworden. Und seit dem Tag, an dem George ihr seinen Heiratsantrag gemacht hatte, war sie nie wieder zu Besuch gekommen. Und auch Thomas war wenig später zum Universitätsstudium abgereist. Danach hatte Elisabeth kein Wort mehr mit ihr geredet.
»Was ist? Willst du gar nichts sagen?«, fragte Elisabeth bitter.
Nell fiel nichts, aber auch gar nichts ein, was sie zu ihrer Cousine hätte sagen können. Sie hatte schon vor langer Zeit aufgehört, sie verstehen zu wollen. »Was soll ich denn sagen, Lady Morton?«, fragte sie müde.
Elisabeths Augen verengten sich bedrohlich. Nell beschloss, wenigstens höflich zu sein. »Ich hoffe, es geht Ihnen gut?«
Zu ihrem Erstaunen wurde Elisabeths Gesicht rot vor Wut Ihre Augen blitzten. »Du hoffst, dass es mir gut geht? Als ob du dich um mein Wohlbefinden scherst! Als ob du dich je darum geschert hättest! Hat es dich gekümmert, wie ich mich fühlte, als George dir einen Heiratsantrag gemacht hat?«
»Was?« Nell war wie vor den Kopf geschlagen. Jetzt begriff sie gar nichts mehr. »Ich weiß nicht, was du ...«
»Natürlich nicht!«, stieß Elisabeth grimmig hervor. »Was weißt du schon von unerwiderter Liebe? Dir haben die Männer ja schon immer aus der Hand gefressen, nicht wahr, Storm?«
Nell machte den Mund auf, wollte ihrer Cousine widersprechen, aber Elisabeth ließ sie nicht zu Wort kommen.
»Ich weiß nicht, warum du wieder zurückgekommen bist. Aber eins will ich dir versichern: Ich werde dir das Leben hier zur Hölle machen! Hast du verstanden?« Nach diesen Worten gab sie dem Kutscher einen Wink und fuhr davon.
Die Zweifel, die Nell nach ihrem Besuch im Kaufladen gekommen waren, waren nun wie weggewischt. Sobald dieser Monat vorüber war, dachte sie, während sie sich auf den Heimweg zum Cottage machte, würde sie von hier verschwinden. Und nie wieder zurückkommen.
Sie würde Georgina regelmäßig schreiben, nahm sie sich vor. Und wenn das Mädchen sie wirklich brauchen sollte, würde sie sich eben mit ihr treffen. Vielleicht konnte das Madchen sie ja an ihrem neuen Wohnort besuchen kommen.
Und wenn der Fluch sie schließlich in den Wahnsinn trieb, würde sie dafür sorgen, dass man Georgina mitteilte, sie sei friedlich entschlafen.
Vielleicht würde Mikhail ihr ja erlauben, die versprochene Wohnung Georgina zu hinterlassen. Das wäre eine letzte liebevolle Geste, bevor sie starb. Und da sie ohnehin verdammt war, konnte das gewiss nicht schaden.